98-57-105. Das sind nicht meine Model-Maße, nein. Umfänge sind es aber schon. Nur halt in Form von Kilometern: 260 insgesamt, gespickt mit 4.530 Höhenmetern, verteilt auf drei Tage.
Verrückt? Richtig! Ich habe am „Epic Israel“ teilgenommen – einem Mountainbike-Etappenrennen im Mittleren Osten. Ich sage nur: Shalom Sitzhöcker! Mein Arsch tut weh. Und ich bin so stolz wie noch nie!
Neuland Mountainbiken
Ich mag Abenteuer. Ich fahre gerade Rad. Rennrad. Ich habe sogar ein Mountainbike. Damit bewege ich mich durch die Stadt, um auch mal über eine Bordsteinkante oder kleinere Schlaglöcher zu kommen. Vier, fünf Mal war ich damit auch schon in nordrhein-westfälischen Wäldern unterwegs, mit all den wuchernden Wurzeln und ungebändigten Laubbäumen. Ich dachte, das reicht für eines der härtesten Mountainbike-Rennen der Welt. Da man aber zu zweit starten muss, falls ein Steinbrocken doch mal stärker ist als man selbst, habe ich ein wenig rumtelefoniert und schnell ein weiteres Opfer gefunden: Zdenko, mein Rennradkumpel aus Köln. Er hat kein eigenes Mountainbike. Und ist noch nicht auf einem gefahren. Wir sind also einmal zusammen in den Königsforst gefahren. Er mit Leih-MTB. Ich mit meinem eigenen Hardtail. Nach 40 Kilometern und über drei Stunden waren wir erledigt. Beste Voraussetzungen. Also Koffer zu und ab nach Israel.
Hallo Israel!
Wir reisen einige Tage vor dem Rennen an, um uns zu akklimatisieren. 35°C und mehr wollen schließlich trainiert sein. Wir schauen uns Tel Aviv und Jerusalem an – zusammen mit einem großartigen Reiseführer namens Nachon. Er zeigt uns die tollsten Ecken, führt uns in die besten Bars und Restaurants. Nun stecken uns also drei Tage Sightseeing, zig Kilometer in Flips Flops und kiloweise Humus in den Knochen.Tapering auf Touri-Art.
Mein Bauch ist voll. Mein Kopf auch. Schaffen wir das? Sind wir eigentlich bescheuert? Die Infomails vom Veranstalter sind schweres Futter für die Gedankengänge:
„Red arrows indicate danger. Where ever you see a red arrow you should take extra care. We didn’t mark every rock along the way.“
„Especially challenging and maybe the hardest route in the history of the race that brought the routes’ designers to raise the time limit to the highest ever.“
„Not everyone will be a Finisher.“
Bäm! Besonders gefährliche Stellen sind mir roten Pfeilen markiert. Immerhin. Das Zeitlimit ist so hart wie noch nie und nicht jeder wird ein Finisher sein. Oh Mann. Aber ich erwarte neben scharfkantigen Steinen, technischen Abfahrten und brütender Hitze auch eine wunderschöne Landschaft, unvergessliche Eindrücke und viel Spaß. Wir kriegen das schon hin. Also reisen wir weiter in den Norden des Landes nach Yesud HaMa’ala, am Fuße der Golanhöhen und in der Nähe des Jordan-Flusses. Unfassbar, dass hinter den Bergen Krieg herrscht. Schwere Kost. Ich fühle mich komisch.
Tough und Tubeless
Mittlerweile haben wir einen Teil der Mitfahrer kennengelernt. Sie kommen aus Kanada, England, der Tschechischen Republik und Afrika. Sie haben Mountainbike-Erfahrung vom Cape Epic rund um Kapstadt bis hin zu Profirennen plus Platzierungen. Die Wörter, die wir am meisten zu hören bekommen, sind “tough” und “tubeless”. Gut, dass mein Rad auf Schläuche eingerichtet ist. Aber das habe ich am Nachmittag vor dem ersten Raceday noch ändern können – mit viel Tape und fachkundiger Hilfe von Joe´s No Flats-Team. Sobald sich ein Dorn oder fieser Felsbrocken in den Mantel bohren, läuft Pannenmilch aus dem Inneren in das Loch und erhärtet. Das Loch ist dann dicht und ich kann unbekümmert weiterfahren, vermutlich sogar, ohne es zu merken. Danke Alex. Nun fahren wir auch tubeless. Wie echte Profis eben.
Um 22 Uhr gehen wir ins Bett. Um 4:30 Uhr klingelt der Wecker. Wir sind wirklich in Israel. Kein verrückter Traum. Wir füllen unsere Trinkblasen der Trailrucksäcke mit Wasser, in die Flasche am Rahmen kommt eine klebrige Gel-Mischung. Die Trikottaschen sind voll mit Riegeln, Erste-Hilfe-Sachen und Notfall-Schläuchen. Wir reihen uns in der Startbox recht weit hinten ein, umarmen uns. Unsere Absprache: vorsichtig fahren und immer ehrlich sein – was nicht geht, das geht halt nicht. Dann fällt der Startschuss, die Profis pesen los, wir radeln gemächlich hinterher, atmen Staub. Noch ist die Strecke flach. Es folgen 98 Kilometer mit 1.400 Höhenmetern. Keine Stunde dauert es, bis unsere Blicke weitere Worte überflüssig machen: kopfgroße weiße Steine aus einem ausgetrockneten Flussbett bringen uns um den Verstand. Wir schieben und fluchen. Es geht bergauf. Wie zum Henker können die anderen das hier fahren? Ok, Ruhe bewahren, aufsatteln, weiter geht´s, diesmal abwärts. Wir sind nur unwesentlich schneller unterwegs als bergauf. Aber wie auch immer wir das gemacht haben – nach gut fünfeinhalb Stunden, zig Macken von Dornenbüschen, den Sohlen voller Dreck und mittlerweile braunen statt weißen Tritime-Trikots sind wir im Ziel! Erster Finish!
Finishen – ja, nein … vielleicht?
Am Abend gibt es wieder Humus und den zweiten Etappen-Aufkleber. Ich sehe die Angaben zu Höhenmetern und Verpflegungsstellen und mir wird ganz anders. Es heißt, es wird die anspruchvollste und härteste Etappe – 105 Kilometer und 1.700 Meter Anstieg. Am nächsten Morgen reißt der Wecker mich wieder um 4:30 Uhr aus dem Tiefschlaf. Ich habe nicht geträumt. Dafür habe ich Halsschmerzen. Unsere Herausforderung als Mixed Team ist es nun, zu überlegen, was wir tun: starten? Nicht starten? Schaffen wir die Strecke oder ist es leichtsinnig mitzumachen? In meinem Kopf herrscht ein Konflikt. Aber ich will diese Medaille haben, die man nur bekommt, wenn man alle drei Etappen erfolgreich beendet hat. „Not everyone will be a Finisher“. Ich will aber!
Aufgeben ist keine Option
Also Stück für Stück. Erstmal bis zur ersten Verpflegungsstation bei Kilometer 23. Und Tatsache – nach einigen Höhen und Tiefen im Profil und in meinem Gemüt sind wir tatsächlich oben. Ich hätte heulen können vor Freude. Aufgeben ist keine Option mehr. Wir fahren weiter und erreichen zwei weitere Stunden später die zweite Verpflegungsstelle – mit einem atemberaubenden Blick auf die Berge Jordaniens. Es gibt Salztabletten, Bananen, Kettenöl. Dann geht´s weiter. Auch wenn es von hier an weitestgehend Downhill geht bin ich am Limit. Die technische Herausforderung und dazu mein ungefederter Sattel – Zdenko tut mir Leid. Mein Hintern auch. Jeder Kieselstein brachte meine Sitzhöcker zum Explodieren, ich sage immer wieder „kürzer“ und kann selbst die 30 letzten, flachen Kilometern kaum mithalten. Aber die Stimmung ist trotzdem gut. Wir sind nett zueinander, geduldig und hartnäckig – sodass wir nach etwas weniger als neun Stunden in der ungnädigen Sonne tatsächlich wieder das Ziel erreichen. Ich bin am Ende. Und endglücklich.
Der große Tag
Startschuss Nummer III. Um Punkt 6:30 Uhr sitzen wir wieder im Sattel. Für diese Etappe habe ich mir ein Fully ausgeliehen. Das nenne ich Vertrauen: Yair von Joe´s No Flats gibt mir einfach sein eigenes 9000-Euro-Rad – obwohl er weiß, dass ich Anfängerin bin. Die israelische Freundlichkeit finde ich eh faszinierend. Unzählige Mal werden wir während des Rennens gefragt, woher wir kommen. Immer heißt es dann: „Guten Tag. Welcome to Israel.“ Auch ein Hauch von „Viel Glück“ kommt trotz des Gepolters über die Steine meist noch bei uns an. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob wir diese Medaille bekommen. Aber fühlte mich bestens. Das Halsweh ist weg und die Vollfederung ein Paradies für meinen Hintern. Damit machen sowohl diese kranken Anstiege von teilweise bis zu Proenzt Spaß. Von den Abfahrten ganz zu schweigen. Ich liebe diese Etappe und man kann sagen, Zdenko und ich genießen nun wirklich. Wir sind perfekt aufeinander eingestellt, kein Nörgeln, keine Spannungen. Während mein Teamfahrer wie ein Irrer die Berge hochgerast, „um es schnell hinter sich zu bringen“ und oben eine kurze Pause braucht, lasse ich es ganz nach meinen Mantra „konstant und entspannt“ angehen. Gemeinsam geht es jedes Mal weiter. Uns ist total klar: wir haben einen Vogel. Wir lachen, nehmen uns in den Arm und freuen uns: die Lautsprecheransagen vom Ziel wabern hinauf zu uns in die Berge. Nun noch fünf Kilometer – lange Kilometer mit ebenso steilen Stücken nach unten wie davor bergauf. Das Rad ist unsere Krücke, wir rutschen teilweise auf dem Po die Steine hinab. Nur wer hier noch fahren kann, hat einen noch größeren Vogel als wir.
Nach 05:30 Stunden bin ich fassungslos: wir haben es geschafft! Wir haben alle drei Etappen des Epic Israel erfolgreich gefinisht und bekommen tatsächlich diese tolle Medaille umgehängt. Noch nie haben wir so hart geackert. Noch nie waren wir so zwiegespalten und so überglücklich im Ziel zu sein. Wir haben es geschafft als Mountainbike-Rookies eines der härtesten Rennen der Welt zu bezwingen. Epic Israel ist ein tolles Event mit tadelloser Ausschilderung, tollen Verpflegungsstellen und tollen Helfern. Toda, Israel! Lehitra’ot. Wir kommen definitiv wieder. Vielleicht ist die fünfte Ausgabe ja eine 90-60-90.
Verrückt?
Richtig!
Text/Video: Anita Horn
Fotos: Uriel Cohen
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